Formale und situative Dominanz

Neben der echten und unechten Dominanz gibt es noch eine weitere Spielart der Dominanz. Auch sie müssen wir verstehen, wenn wir über Dominanz-Verhalten reden wollen. Deshalb schauen wir uns in diesem Abschnitt die formale und die situationsbezogene (lies: situative) Dominanz genauer an.

Wichtig! In diesem Abschnitt vertiefen wir das Wissen über die echte Dominanz. Es ist daher wirklich wichtig, dass du den Unterschied zwischen echter und unechter Dominanz verstanden hast und sicher erkennen kannst.

Formale Dominanz? Situative Dominanz? Was bedeutet das?

Als formale Dominanz wird ein anerzogener oder instinktiver "Rechtsanspruch" auf das Vorrecht, also die Dominanz, bezeichnet. Beispielsweise ist ein König formal dominant. Er bekommt das Vorrecht allein durch Geburt und Krönung. Und dieses Vorrecht ist allumfassend und, sobald erteilt, nicht verhandelbar.

Als situative Dominanz wird hingegen ein in einer akuten speziellen Situation beanspruchter Rechtsanspruch bezeichnet. Beispielsweise das Müll-Rausbringen. Zwar gibt es in eurer Familie jemanden, der das mehr oder weniger koordiniert. Aber der damit Beauftragte kann durchaus beispielsweise erfolgreich sgegen den Zeitpunkt rebellieren; ohne gleich eure ganze häusliche Ordnung dem Chaos auszusetzen. Er ist damit situativ dominant; aber nicht formal dominant.

Formale Dominanz wird ausgefochten und gilt fortan. Situative Dominanz wird jedes einzelne Mal ausdiskutiert.

Es ist mega-wichtig, dass du beides sicher auseinanderhalten kannst! Nur dann wird es dir gelingen, den Respekt deines Hundes dauerhaft zu erwerben.

Alle Hunde kennen und nutzen beide Arten

Die formale Dominanz nutzen Hunde, um beispielsweise - aber nicht nur(!) - die Rangordnung innerhalb des Rudels zu etablieren. Sie erheben einen dauerhaften Anspruch auf einen Rang innerhalb des Rudels. Und sie verteidigen diesen Anspruch, sobald es notwendig wird.

Die situative Dominanz nutzen Hunde, um in einer speziellen Situation beispielsweise ihren Willen durchzusetzen, eine Ressource zu verteidigen oder die Fortsetzung bzw. den Abbruch einer Aktivität zu fordern. Dabei stellen sie die formale Dominanz, also die Rangordnung, nicht infrage. Auch nicht, wenn sie sich gegen einen Ranghöheren situativ dominant verhalten. Sie wollen sich nur hier und jetzt durchsetzen.

Was bedeutet das für mich?

Den Unterschied zwischen beidem stets sicher erkennen zu können, ist für uns super-super-super-wichtig. Deshalb musst du unbedingt lernen, beides auseinanderhalten zu können.

Wann will dein Hund wirklich die formale Dominanz, also die berühmt-berüchtigte Weltherrschaft, an sich reißen? Und wann ist er nur situativ dominant, möchte also nur hier und jetzt seinen Kopf durchsetzen, ohne gleich an die Weltherrschaft zu denken?

Denn beide Dominanz-Ansprüche unterscheiden sich in ihren Auswirkungen auf unser Zusammenleben mit unserem Hund massiv.

Warum ist das so wichtig?

Wie wir schon im Abschnitt echte und unechte Dominanz besprochen haben, kann - und sollte - echte Dominanz es sich erlauben können, mal alle Fünfe gerade und den Herrn einen lieben Gott sein lassen, also eine Insubordination großzügig übersehen zu können. Damit versetzt du euch beide - dich und deinen Hund - in die komfortable Freiheit

GELEGENTLICH Regeln zu BEUGEN
aber
NICHT DAUERHAFT zu BRECHEN

Du musst also nicht permanent wie ein Schießhund aufpassen, dass auch wirklich jede Regel jederzeit eingehalten wird, ohne gleich die gesamte Kontrolle aufzugeben. Damit wird euer Zusammenleben entspannter und vor allem du kannst dir Atempausen von deinem Job als Rudelführer gönnen, ohne gleich ein schlechtes Arbeitszeugnis ausgestellt zu bekommen.

Kinderkram! Das kann doch jeder!

Auf den ersten Blick könnte man jetzt denken "So eine kinderleichte Aufgabe! Das kann doch jeder auseinanderhalten." Und tatsächlich könnte man irgendwas, wie das Folgende, annehmen: "Solange er mich nicht angreift, aggressiv anbellt oder gar beißt, ist es situative Dominanz. Und dann kann ich ihn einfach mal machen lassen, um meine eigene Dominanz zu beweisen."

Dabei wäre man gar nicht soooo weit von der Realität entfernt. Dummerweise ist es aber auch nicht dicht genug dran. Und damit beginnt unser Problem. Denn situative Dominanz verfestigt sich auf Dauer zur formalen Dominanz, wenn sie überhand nimmt. Da kommt dann irgendwann das allzu menschliche "Das haben wir doch schon immer so gemacht!" dabei heraus. Und dann hast du den Salat.

Klassisches Beispiel: Das Lieblingsspielzeug deines Hundes.

Situativ dominant ist dein Hund, wenn er GELEGENTLICH den Besitz des Spielzeugs verteidigt. Beispielsweise im gemeinsamen Spiel. Das ist tief im grünen Bereich, denn warum soll er nicht auch mal den Erfolg genießen, uns etwas "weggenommen" zu haben und allein darüber bestimmen zu können?

Formal dominant ist dein Hund jedoch schon, wenn er PERMANENT den Besitz des Spielzeugs verteidigt. Dann erhebt er einen dauerhaften Anspruch. Und das kann zu einem gewaltigen Problem werden, wenn beispielweise Kinder unbedarft nach dem Spielzeug greifen.

Und wenn dein Hund erst mal hier, da, dort, und da auch noch einen formalen Anspruch auf etwas erhebt, dann bekommst du ganz andere Probleme, als "ein bisschen an der Erziehung arbeiten" zu müssen.

... der Grat ist nicht schmal, aber dauerhaftes Abrutschen ist nicht erlaubt!

Und - Zack! - schon hängst du am anderen Ende der Emotionen, hm?! "Oh Gott! Wie mache ich es denn dann richtig, wenn ich echt dominant sein will? Ich möchte meinem Hund Regel-Übertretungen erlauben. Aber ich will dabei nicht vollständig in Frage gestellt werden."

FAUSTREGEL Je früher und konsequenter du bei situativer Dominanz eingreifst, desto einfacher kannst du auf lange Sicht deine formale Dominanz verteidigen.

Entspanne dich! Du hast ja jetzt schon mal eine Ahnung, worauf du achten musst. Achte darauf und schreite rechtzeitig ein. Denke dabei immer daran: Je früher und konsequenter du bei situativer Dominanz eingreifst, desto einfacher kannst du auf lange Sicht deine formale Dominanz verteidigen. Und im Umkehrschluss gilt auch: Je länger und häufiger du die Dominanz-Ansprüche in speziellen Situationen durchgehen lässt, desto schmaler wird dein Grat, auf dem du wanderst.

Es liegt also in deinem Ermessen, wann und wie lange du deinem Hund situative Dominanz, und damit ein "lockeres, selbstbestimmtes Leben", erlauben willst ... und kannst. Je schwächer und machtloser du dich deinem Hund gegenüber in solchen Situationen fühlst, desto eher und konsequenter solltest du eingreifen und die formale Disziplin wieder herstellen. Und sei es nur vorbeugend.

Erklär's mir noch mal!

Entwickle ein offenes Auge für das Verhalten deines Hundes! Nicht jede Regel-Übertretung sägt an deinem Stuhl als Rudelführer. Doch zu häufige und/oder zu heftige Regel-Übertretungen solltest du im Interesse deines Hundes und deiner selbst nicht dulden.

Faustregel Wenn du wirklich eindeutig sicher bist, dass du die Situation einer situativen Dominanz zu deinen Gunsten entscheiden könntest, dann kannst du hier großzügig sein. Wenn nicht, dann bist du nicht "dominant großzügig", sondern hast bereits formale Dominanz verloren.

Nehmen wir ein quengelndes Kind, das unbedingt jetzt - und genau jetzt - ein Eis haben will, als Beispiel.

Wenn du sicher bist, dass du das Kind beruhigen kannst, OHNE ihm das Eis zu geben, dann kannst (nicht: musst!) du ihm das Eis ruhig geben. Wenn du jedoch nur noch dann Ruhe bekommst, indem du dem Kind das geforderte Eis gibst, dann hast du bereits die formale Dominanz in dieser Situation verloren.

Immer noch zu komplex? ... Stelle dir einfach bei jeder Regel-Übertretung die folgenden Fragen:

  1. Hat mein Hund in letzter Zeit häufiger1 mir wichtige Regeln übertreten oder intensiv und nachhaltig zu übertreten versucht?
  2. Wird er häufiger1 in verschiedenen, also nicht nur dieser einen, speziellen, Situationen auffällig?

1) "Häufiger" ist dabei eine gefühlte Zeitspanne. Je mehr du auf den Gehorsam deines Hundes angewiesen bist, desto kürzer solltest du diese Zeitspanne fassen. In jedem Fall geht es aber um die letzten paar Tage. Nicht Wochen. Und schon gar nicht Monate oder Jahre. Es ist aber auch eine gefühlte Frequenz. Geschieht es (fast) jedes Mal? Oder doch eher nur bei jedem 10. oder 20. Mal?

Wenn die Antworten auf beide Fragen "Ja!" lauten, dann wird es Zeit, die Zügel ein bisschen fester zu fassen. Wenn die Antworten auf BEIDE Fragen jedoch "Nein!" lauten sollten, dann kannst (nicht: musst!) du diese Regelübertretung großmütig übersehen, ohne gleich zu befürchten, in naher Zukunft von einem Königsmörder gemeuchelt zu werden.