Wann sollte ich bei situativer Dominanz eingreifen? Und wann kann ich alle Fünfe gerade sein lassen?

Im Abschnitt zur formalen und situativen Dominanz haben wir uns den Unterschied zwischen beiden angeschaut. Und wir haben festgestellt, dass wir darauf achten müssen, ersteres nicht zuzulassen und letzteres eben doch mal zulassen zu können.

Wichtig! In diesem Abschnitt vertiefen wir das Wissen über die echte Dominanz. Es ist daher wirklich wichtig, dass du den Unterschied zwischen echter und unechter Dominanz verstanden hast und sicher erkennen kannst. Außerdem musst du die formale und die situative Dominanz kennen und beide sicher voneinander unterscheiden können.

Bei der Betrachtung haben wir aber auch festgestellt, dass wir die situative Dominanz nicht überhand nehmen lassen sollten, wenn wir Probleme vermeiden oder wenigstens nicht bis zur Unlösbarkeit ausufern lassen wollen. Und weil das zu erkennen wirklich, wirklich, wirklich wichtig ist, schauen wir uns noch einmal genauer an, wann wir bei situativer Dominanz spätestens eingreifen müssen.

Einen guten Anführer zeichnet aus, dass er erkennen kann, wann er eingreifen muss; und wann nicht.

Dein langfristiger Plan und dein kurzfristiges Feingefühl sind gefragt!

Um es gleich vorweg zu nehmen: Es gibt keinen "goldenen Weg". Hunde sind keine Maschinen, die alle immer gleich funktionieren. Insofern musst du selbst einen Weg finden, mit dem ihr beide - du und dein Hund - gut klarkommen könnt. Der Eine will (oder braucht) einen Hund, der gut und brav folgt; der andere hat seinen Hund eher als allgemeinen Begleiter und Freund. Der eine Hund ist charakterlich unterordnungsbereit; der andere Hund ist tendenziell eher ein Freigeist.

Aus der Erfahrung vieler Jahre heraus lasse dir aber den Rat geben: Es ist einfacher, ein Verbot oder eine Regel aufzuweichen oder aufzuheben; als von Grund auf ein neues Verbot oder eine neue Regel einzuführen und umsetzen zu wollen.

Ein Klassiker: Hund + Sofa

Es ist leichter für deinen Hund zu verstehen; und leichter für dich umzusetzen, wenn du es erst mal strikt verbietest und später dann doch aufweichst oder ganz aufhebst. Es wird jedoch ein, je nach Dickköpfigkeit deines Hundes, manchmal sehr kräftezehrender Kampf zwischen dir und deinem Hund, wenn du es ihm erst mal ein paar Monate oder sogar Jahre erlaubst (der es dir einfach egal ist) und dann - etwa, wenn du ein neues Sofa kaufst - von jetzt auf gleich strikt verbieten willst.

Dher bist du gut beraten, wenn du dir von Anfang an einen möglichst genauen Plan machst, was du deinem Hund erlauben kannst, und wo du keinesfalls Abstriche machen möchtest.

Was, wie lange und wie viel bin ich zu tolerieren bereit?

Manche Dinge sind dem Einen einfach egal, während der Andere darauf mehr oder weniger großen Wert legt (oder auch wegen der Verwendung des Hundes legen muss). Stelle dir deshalb - FÜR DICH SELBST - einen groben Plan auf, in dem du festlegst, welches dominante Verhalten des Hundes du wie lange zu tolerieren bereit bist.

Wichtig! Es macht keinen Sinn, zu sagen: "Wenn er beißt, ist Schluss mit Lustig!"; denn das ist VIEL ZU SPÄT, um dann noch sichere Grenzen einzuziehen, ohne das Risiko, noch etliche weitere Male gebissen zu werden, bevor die Grenze wirkt, zu akzeptieren. Hier sollte beispielsweise "Wenn er das Spielzeug öfter nicht mal mehr auf ein barsches Kommando hin freiwillig rausrücken will.", die aller-mega-hyperletzte Grenze sein. Selbst ernsthaftes Knurren wäre hier schon viel zu spät.

Ist es okay, wenn er sein Futter verteidigt und damit das Füttern zu einem mehr oder weniger gefährlichen Spiel macht? Ist es okay, wenn der Hund ein Spielzeug gegen dich (oder andere Familienmitglieder) verteidigt, und damit eventuell auch mal leichte Bisswunden zu verarzten sind, weil er bei der Verteidigung NATÜRLICH seine Zähne einsetzt (er hat ja nix anderes)? Ist es okay, wenn der Hund an der Leine vorwegläuft und auch schon mal (oder ständig) die Richtung des Spaziergangs bestimmt? ... Kläre möglichst viele dieser und ähnlicher Fragen für dich! Und lege jeweils die Grenzen fest, ab denen du nicht mehr bereit sein wirst, entsprechendes Handeln zu tolerieren.

Durchdenke auch, WIE WEIT dein Hund gehen darf. Denn sei versichert: JEDES Verhalten wird ausgelebt, bis es seine Grenzen findet. Ein lustiges "Nase krausziehen", weil er ein Spielzeug verteidigen möchte, kann - und wird, wenn es unwidersprochen bleibt - mit der Zeit zu einer immer vehementeren Verteidigungshaltung; die irgendwann auch in Schnappen enden wird.

Übertreibt mein Hund in EINER Situation seine situative Dominanz?

Wir kennen es alle: Unser Hund schnappt sich sein Lieblingsspielzeug ... und verschwindet in einer Staubwolke. Oder er fordert uns heraus, ihm das Spielzeug abzujagen; doch er gibt es nicht her. Und wenn wir ihn dann doch erwischen, dann verteidigt er das Spielzeug und ignoriert das "Aus!"-Kommando vollständig.

Schon solche scheinbaren Kleinigkeiten sind starke Indikatoren, dass wir gerade eine Baustelle beobachten. Denn auch, wenn es vielleicht lustig anzuschauen sein mag; oder wenn man sich eigentlich vor Lachen gar nicht mehr einkriegt, weil er das Spielzeug ebenso tapfer wie niedlich verteidigt:

Formalisiert sich die situative Dominanz, wird sie fast immer zu einem Problem. Meist weitet sie sich dann auch rasend schnell auf andere Situationen aus.

Weiterfahren und beobachten! Solange du die Situation trotzdem wenigstens in den allermeisten Fällen beherrschst und dein Hund gehorcht, besteht noch kein dringender Handlungsbedarf.

Hier hat (oder bekommt gerade) dein Hund ein ernsthaftes Problem: Wahlweise wirst du schon bald eine Obsession (= zwanghafte/krankhafte Sucht; hier: Spielzeug-Sucht) erleben, oder dein Hund wird anfangen, auch in anderen Situationen seine Dominanz zu testen --- meist jedoch leider beides.

Ist mein Hund IN MEHREREN verschiedenen Situationen situativ dominant?

Gedanken solltest du dir unbedingt auch machen, wenn dein Hund in mehreren verschiedenen Situationen dominant ist (oder wird). Denn dann zeigt er bereits deutliche Anzeichen, dass es nicht mehr nur eine "situative Rebellion" ist, sondern, dass er seinen Anspruch auf weitere Gebiete ausdehnt. Und ja, das kann man nicht beschönigen: DAS ist ein starker Indikator, dass du in deiner Führungsrolle versagst.

Dringender Handlungsvedarf! Kannst du schon in mehreren Situationen nicht mehr sicher entscheiden; MUSST DU SCHLEUNIGST HANDELN! Sonst verlierst du das bisschen Kontrolle, das du noch hast, auch bald. Und das erschwert nur den Rückweg zur Normalität eines guten Rudels.

Wenn er also beispielsweise an der Leine zieht UND sein Futter verteidigt UND Spielzeug nicht hergibt UND immer schlechter auf Kommandos hört, dann kannst du gewiss sein: Es besteht dringender Handlungsbedarf, wenn du noch etwas von deinem Ansehen retten willst. Denn dann betrachtet er dich zunehmend als Hampelmann, der nicht imstande ist, das Rudel sicher zu führen.

Wir wollen keinen Kadavergehorsam

Als gute und echt-dominante Anführer wollen wir jedoch keinesfalls Kadavergehorsam. NATÜRLICH darf der Hund auch mal über die Stränge schlagen. NATÜRLICH erlauben wir ihm gelegentlich auch Dinge, die wir eigentlich sanktionieren müssten und vielleicht auch wollten. NATÜRLICH wollen wir keine Spaß-Bremsen sein oder gar als Tyrannen oder Diktatoren auftreten.

Und deshalb zeigen wir unserem Hund mit dieser Art der Begrenzung schlicht und einfach: "Ich habe dich im Blick, mein Freund. Und ich sehe, dass du gerade die Regeln des Respekts übertrittst. Doch ich werde es dieses Mal tolerieren. Aber nicht, weil ich schwach bin, sondern, weil ich weiß, dass ich es sanktionieren könnte ... dir aber jetzt deinen Spaß lassen möchte, solange du es nicht übertreibst."

Wir verhalten uns also wie Eltern, die ihrem Kind erlauben, bis Mitternacht auszugehen, obwohl wir eigentlich die Regel hatten: "Unter 15 Jahren Ausgang nur bis max. 22 Uhr." ... Uns tut's nicht weh; und das Kind hat eine Freude. Doch alle Beteiligten wissen: Es ist eine klar definierte Ausnahme von der Regel; keine automatische Dauer-Genehmigung. Und allen ist klar, dass wir das auch wirklich durchsetzen wollen, werden und können.