Angst - eine gesunde Reaktion! Oder?!

Als wir uns die zentralen Stress-Faktoren (Freeze, Flight, Fight - Erstarren, Flüchten, Kämpfen) unseres Hundes angeschaut haben, ließen wir scheinbar einen wichtigen Stress-Faktor außer Betracht; namentlich die

ANGST

Dabei ist die Angst eine so wichtige und fundamentale Reaktion, dass wir sie gesondert betrachten wollen. Denn Angst ist gesund! Also eine gesunde Angst ist gesund, denn wie immer macht die Dosis das Gift. Und damit wir das besser erkennen und unterscheiden können, schauen wir uns hier die Frage an

Was ist eine gesunde Angst?
Und was nicht?

Was ist überhaupt Angst?

Nähern wir uns dem Begriff mal über seine allgemeine medizinische Definition:

"Angst ist eine affektive Reaktion, die in unterschiedlichster Ausprägung nicht nur vollkommen normal, sondern biologisch ausdrücklich erwünscht und lebensrettend sein kann. Auf der anderen Seite können Ängste und Angstreaktionen im Kontext inadäquat sein und sich als psychische Störung präsentieren."

So definiert Zwanziger in seinem Buch "ANGST - Medizin. Psychologie. Gesellschaft." den Begriff der Angst: Sie ist vollkommen normal. Sie ist biologisch erwünscht. Sie kann aber auch inadäquat (unangemessen) sein und sich dann als psychische Störung (Angst-Störung, Phobie) äußern.

Angst ist gut und gesund; solange sie nicht übertrieben ist.

Wovor haben Hunde Angst?

Die Antwort auf diese Frage wird dich sicherlich ein bisschen überraschen: Grundsätzlich haben Hunde vor allem Unbekannten Angst. Alles, was sie nicht kennen, macht ihnen zunächst einmal Angst. Das kann ein einfaches Geräusch, etwa die Sirene einer Feuerwehr sein; das kann ein Schatten eines Denkmals sein; das kann ... nun, ... das kann praktisch alles sein, was wir in unserer menschlichen Welt als völlig normal und allgegenwärtig empfinden mögen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Ängste unserer Hunde ernst nehmen. Nachfolgend findest du eine Liste der häufigsten Ängste von Hunden aus der Studie der Companion Animal Psychology in absteigender Reihenfolge:

  1. Oberflächen, Schatten und Strukturen
  2. Fremde Hunde
  3. Fremde Menschen
  4. Donner, Feuerwerk, Schüsse, Fehlzündungen von Autos und Motorrädern
  5. Unvertraute Geräusche (in fremden Umgebungen)
  6. Unvertraute Situationen (in fremden Umgebungen)

Neben der Tatsache, dass Hunde sehr schnell große Angst vor fremden Hunden und fremden Menschen haben, siehst du auch, dass Hunde praktisch vor allem Angst haben, was in unserer menschlichen Umgebung weitgehend oder ganz normal ist, nicht wahr?! Fast alles, was wir als "völlig normal und keinen Gedanken wert" beurteilen, weil es uns in unserer menschlichen Welt vertraut ist; macht unserem Hund erst einmal Angst. Das ist keine Tragödie; aber du solltest es in deinem Erziehungs-Plan berücksichtigen. Denn ein Teil deines Jobs ist es, deinem Hund möglichst viele Ängste zu nehmen und ihn dafür selbstbewusster und selbstsicherer zu machen.

Wie äußert sich die Angst?

Rein medizinisch äußert sich die Angst wie folgt: Zuerst werden Nervensignale an das Hirn gesendet, die die Ausschüttung von Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol stimulieren. Die Pupillen erweitern sich. Die Herzfrequenz steigt sprunghaft an. Der Blutdruck steigt. Die Verdauungsprozesse verlangsamen sich. Harn- und Schließmuskeln verengen sich. Die Blutgefäße zu den wichtigen Muskeln erweitern sich. Die Bronchien erweitern sich, um mehr Sauerstoff aufnehmen zu können. Insgesamt "schärfen sich die Sinne".

Das ist eine biologisch wichtige Reaktion, denn sie bereitet den Betreffenden auf die kommenden Reaktionen vor: Flucht? Oder Kampf?

  • Erstarren
  • "Slow-Motion"-Bewegungen, also sehr langsames und vorsichtiges Bewegen
  • verstärktes Hecheln
  • Zittern
  • Zusammenkauern
  • Suche nach einem Versteck
  • keine oder verzögerte Reaktion auf Außenreize (Kommandos, etc.)
  • starker Speichelfluss
  • vermehrtes Gähnen
  • Lippen oder Nase lecken
  • angehobene und dort erstarrte Pfote
  • Inkontinenz (kann das Wasser nicht halten)
  • Knurren
  • Aggression
  • "Durchdrehen" (wildes und nicht eindeutiges Verhalten aller Art)

Du siehst: Viele dieser Anzeichen sind nicht eindeutig "Alles klar! Er hat Angst!", sondern müssen im Kontext der aktuellen Situation berücksichtigt werden. Wenn dein Hund beispielsweise zu Hause, nach dem ausgiebigen und spannenden Spaziergang und einem guten Abendessen viel gähnt, dann hat er wohl weniger Angst und ist mehr müde. Wenn er aber beim Spaziergang ganz offensichtlich irritiert ist und nun anfängt, wie wild zu gähnen, dann ist er ziemlich sicher weniger müde; hat dafür aber wohl ordentlich Angst vor irgendwas.

Je mehr dieser Signale zusammenkommen, desto sicherer kannst du sein: "Wenn es eine valide Situation ist, dann hat er gewaltig - und immer mehr - Angst." Doch lasse dich nicht täuschen: Dein Hund kann sich auch gerade vor lauter Angst in die sprichwörtliche Hose kacken und trotzdem nur wenige oder vielleicht nur eines der Anzeichen zeigen. Mindestens eines zeigt er aber IMMER.

Unbehandelte Angst kann zur Angst-Störung, zur Phobie werden!

Als verantwortungsvoller Rudelführer weißt du, dass du deinen Hund in DEINER Welt führen mussst. Und das bedeutet auch, dass du ihm hilfst, die "unnötigen Ängste" abzubauen. Angst vor Schatten, Oberflächen und Strukturen ist so eine unnötige Angst. Auch die Angst vor Feuerwerk, Donner oder Fehlzündungen ist in unserer Welt eher schädlich und unnötig.

Nimm alle Ängste deines Hundes ernst! Unbehandelte Ängste können - nicht müssen, aber können - sich zu einer Phobie entwickeln.

Tatsächlich können unbehandelte Ängste sich zu waschechten Angst-STÖRUNGEN, also Phobien entwickeln: Hat dein Hund anfangs vielleicht nur einen Schreck bekommen, wenn es hinter ihm knallte; kann sich das so weit entwickeln, dass er sich beim Knall irgendwo verkriechen möchte und jeden beißt, der ihm dann zu nahe kommt. Und dann hast du dir entweder einen Problem-Hund erzogen; oder du hast eine sehr viel größere Baustelle vor dir, als du noch hattest, als du nur die Angst bzw. den Schreck bekämpfen musstest.

"Desensibilisierung" ist das Zauberwort

Wie du die Angst deines Hundes reduzierst? Ganz einfach: Indem du ihn desensibilisierst; ihm also geduldig und konsequent zeigst, dass er vor diesen Dingen und Geräuschen keine Angst haben musst. Gehe langsam(!) mit deinem Hund darauf zu. Fasse es an. Lasse deinen Hund daran schnüffeln. Sorge einfach dafür, dass er dieses Objekt oder Geräusch als weniger bedrohlich empfindet. Und habe viel, viel, viel Geduld und Ruhe dabei.

Angst-Beißer sind die unberechenbarsten Beißer!

Viele Menschen sagen, dass sie vor drohenden Hunden am meisten Angst/Ehrfurcht/Respekt haben. Ich habe vor Angst-Hunden sehr viel mehr Angst/Ehrfurcht/Respekt. Drohende Hunde sagen mir klar, wo meine Grenze ist, die ich tunlichst nicht überschreiten sollte. Angst-Hunde wissen in dem Moment selbst nicht so genau, wo sie die Grenze ziehen sollen oder wollen. Und dann sind sie von ihrer eigenen (bissigen) Reaktion genauso überrascht, wie ich.

Hunde beißen eher aus Angst, als aus einer Drohung heraus! Viele Bisse könnten vermieden werden, würde man die Ängste der Hunde ernst nehmen. Ein ängstlicher Hund, der sich ausweglos sieht (ganz egal, ob er das tatsächlich ist oder nicht: es reicht, dass er es selbst glaubt), wird eher zubeißen; als ein drohender Hund, dessen Grenzen man respektiert.

Deshalb solltest du wirklich alles unternehmen, deinem Hund zumindest all jene Ängste zu nehmen, die in deiner menschlichen Welt hinderlich sind oder hinderlich sein könnten. Damit reduzierst du nicht nur die Gefahr, dass du mal unverhofft die Versicherung in Anspruch nehmen musst; sondern erlaubst deinem Hund ein selbstsichereres und ruhigeres Leben.

Mooooment! Da war auch die Rede von "Angst vor fremden Hunden & Menschen" Echt jetzt?!

Ja, diese Angst ist vollkommen natürlich und sehr, sehr tief in den Instinkten unserer Hunde eingepflanzt. Da draußen in der freien Natur ist alles Fremde in zwei Kategorien unterteilt:

[_] Es ist essbar, also potenziell Beute.
[_] Anderenfalls könnte es eine Gefahr für Leib und Leben sein.

Auf diese Weise wird die Entscheidungsfindung unter Stress erleichtert: "Jage es!" (bzw. "Bekämpfe es!", wenn Flucht nicht mehr möglich ist) oder "Sieh zu, dass du Land gewinnst!" Und ja, fremde Hunde haben gefährliche Zähne; und fremde Menschen könnten die auch haben. Also ist Furcht und rechtzeitige Flucht eine völlig vernünftige Reaktion.

Du gehst nachts durch einen unbeleuchteten Park in einer Gegend, vor der die Einheimischen dich dringend gewarnt haben, nachts tunlichst nicht hinzugehen. Plötzlich siehst du ein paar Dutzend Meter vor dir den Schatten eines Menschen, der hinter einem Baum stehengeblieben ist. Wie reagierst du?

[_] Freudige Erwartung, schließlich ist es ein Artgenosse! Ich würde jetzt wahnsinnig gern mit ihm plaudern und unsere Meinungen über die Weltpolitik austauschen.
[_] In mir kriecht eine lähmende Angst hoch und ich denke "Scheiße! Hoffentlich bringt er mich nicht um! Wäre ich doch bloß woanders langgegangen."

Für unseren Hund ist die ganze Welt "ein nächtlicher, fremder, unbeleuchteter Park in einer unsicheren Gegend". Die ganze Welt? Ja, die ganze Welt. Er liebt es, wenn er - ganz konservativ - möglichst nie mit Fremden in Berührung kommt. Denn "alles Fremde ist potenziell gefährlich, solange es nicht klar erkennbar essbar ist", sagen ihm seine Instinkte, die er vom Wolf geerbt hat.

Das ist für uns in unserer menschlichen Welt natürlich blöd. Wir sind gern mit (aus der Sicht des Hundes) Fremden zusammen. Und wir lieben es, mit anderen Hunde-Haltern (und deren Hunden) in engen Kontakt zu kommen; so dass unser Hund sich genau diesen beiden Ängsten immer und immer wieder ausgesetzt sieht; ganz egal, ob er will oder nicht. Deshalb muss dein Hund LERNEN, mit diesen Ängsten umzugehen. Er wird nie eine echte Freude daraus entwickeln, so wie wir das machen. Aber er kann lernen, diese Angst ganz tief vergraben zu lassen und stattdessen zumindest positive Anteilnahme an der Situation entwickeln.

"Das bedeutet, dass mein Hund sich gar nicht freut, wenn er andere Hunde sieht?" --- Ja, genau das bedeutet es: Für deinen Hund ist JEDE Begegnung mit anderen Hunden zunächst IMMER mit großem Stress verbunden. Selbst dann, wenn er sein Leben lang daran gewöhnt wird. Und deshalb ist es deinem Hund gegenüber nur fair, wenn du diese Situationen nicht übertreibst; sondern stets berücksichtigst, dass DU DER EINZIGE BIST, DER GERADE SPAẞ HAT; ganz egal, was du gern in das Verhalten deines Hundes hineininterpretieren möchtest.