Desensibilisierung: Sozialisierung vs. Traumatisierung

In diesem Abschnitt wollen wir einen näheren Blick auf das werfen, was allgemein als Sozialisierung, also als Einführung in unsere menschliche, soziale Gesellschaft, unserer Hunde bekannt ist. Sicherlich hast du den folgenden Satz auch schon mal gehört oder gelesen:

"Du hast einen jungen Hund?
Dann bringe ihn mit so vielen Menschen, Hunden, Objekten,
Geräuschen und Situationen in Kontakt, wie du nur kannst!"

Was man damit meint, ist im Grunde eine sogenannte Desensibilisierung, also so eine Art Abstumpfung durch Gewohnheit. Der Hund soll lernen, dass fremde Menschen, fremde Hunde, ungewöhnliche Geräusche, komische Gebilde und all das andere Zeug, das uns in unserer menschlichen Welt nun einmal zwangsläufig umgibt, für unseren Hund aber mit seinen natürlichen Instinkten verwirrend und beeängstigend ist, keine Angst machen soll und muss.

Doch damit das Ganze nicht zur Traumatisierung, also zu einer seelischen Verletzung des Hundes wird; die obendrein schlimmstenfalls mit einer lebenslangen Phobie, also krankhaften Angst, endet, werden wir auch hier mal etwas genauer hinschauen.

Guter Gedanke! Doch Vorsicht bei der Umsetzung!

Diese Empfehlung ist grundsätzlich gut und richtig. Unser Hund kommt aus einer instinktiven Welt, die mit unserer menschlichen Welt praktisch gar nichts gemeinsam hat. Daher braucht er von dir Halt und Führung. Er braucht deinen Rat. Und er braucht permanent Antworten auf seine Fragen, die er an dich hat.

Sozialisierung meint "sanfte Einführung" nicht "Spring ins kalte Wasser!"

Und da sind wir schon beim ersten, wichtigen Punkt: Wenn es um Sozialisierung geht, reicht es eben NICHT, seinen Hund in eine Welpen-Krabbelgruppe zu stecken und dann zu erwarten, dass dieser allein herausfindet, was seine neuen Grenzen sein sollen. Und es reicht NICHT, einfach mit seinem Hund oft genug durch die Straßen zu laufen, damit er sich an Autos, Krach und blinkende Signale gewöhnt. Und es meint NICHT, ein paar Mal mit dem Hund an einer Statue vorbeizulaufen, damit der Hund fortan keine Angst mehr vor Statuen hat.

Es gibt kaum etwas individuelleres am Hund als seine Ängste!

Sozialisierung meint vielmehr, dass du deinen Hund ganz gezielt und ganz individuell auf seine Bedürfnisse zugeschnitten mit den Notwendigkeiten und seinen Ängsten konfrontierst. Es meint also, dass du ihn SANFT an die Hand nimmst und super-geduldig in deine Welt einführst. Es meint, dass du seine Ängste akzeptierst, sie dir merkst und an jeder davon systematisch und mit großer Geduld und Rücksichtnahme arbeitest.

Das heißt nicht, dass beispielsweise Welpen-Krabbelgruppe "doof" wäre. Im Gegenteil: Gehe ruhig hin! Da lernst du mehr als dein Hund. Deshalb lasse es nicht aus, wenn du es dir auch finanziell leisten kannst oder willst. Aber es reicht eben nicht aus, um wirklich sicher sagen zu können, dass dein Hund damit den Umgang mit fremden Hunden lernt. Eher im Gegenteil: Schon nach kurzer Zeit sind diese Hunde sehr vertraut und gar nicht mehr fremd. Der Lerneffekt sinkt also mit jedem Tag, mit jeder Begegnung. Es braucht mindestens zusätzlich, durchaus auch ersatzweise, deine umsichtige Betreuung - vor allem aber DEINE FÜHRUNG - bei der Begegnung mit fremden Hunden. Und zwar: Dauerhaft, wenn auch im Laufe der Zeit immer weniger.

Nötigung ist Terror!

Vielfach sieht man dann auch Leute, die versuchen, ihren Hund mit Gewalt zu "sozialisieren", weil sie weder Zeit noch Nerven dafür haben, dass etwas für sie normales für ihren Hund angeblich furchterregend sein soll:

FALSCH Der Hund hat beispielsweise Angst vor einer Statue. Nun zerren und locken sie den Hund mehr oder weniger gewaltsam zu dieser Statue, um ihm zu zeigen, dass von dem Ding höchstens Gefahr ausgeht, wenn es umkippt, während man darunter steht.

Die Idee ist ja wieder einmal gut; denn tatsächlich bedarf es der Desensibilisierung, wenn der Hund Angst zeigt. Doch die Umsetzung kann zu einer üblen Traumatisierung führen, die dafür sorgt, dass der Hund nicht weniger Angst vor dieser Statue bekommt; sondern mehr Angst vor Statuen überhaupt. Und das kann sich im Laufe der Zeit als waschechte krankhafte und den Hund lebenslang belastende Phobie festsetzen.

RICHTIG Stattdessen nimm dir viel Zeit, dich in der Nähe dieser Statue aufzuhalten. Lasse den Hund entscheiden, wie dicht er sich jetzt, nachher, morgen und übermorgen an das unheimliche Teil heranwagt. Nimm eine Schleppleine mit und setze dich in der Nähe der Statue auf eine Bank oder auf den Rasen. Höre ein Hörbuch. Chille mit deinem Hund. Spiele ein paar Spiele, die euch - wie zufällig - immer mal wieder etwas näher an die Statue bringen. Nicht mit Druck, nicht mit Nötigung. Sondern mit großer Ruhe und Geduld. Genauso, wie du auch für dich verlangen würdest, dass man mit deinen Ängsten umgeht, während du dich ja ehrlich bemühst, dagegen anzukämpfen.

Locke den Hund möglichst auch nicht mit Leckerlie zum anscheinend gefährlichen Ort. Gedulde dich einfach, bis dein Hund selbst den Mut fasst - und das wird er früher oder später -, den Ort genauer zu erkunden. Zuerst super-vorsichtig und zurückhaltend; und jederzeit bereit, sofort wegzulaufen. Später immer mutiger und mutiger. Das ist auch KEIN LOB wert! Denn es ist NORMALITÄT. Es ist so selbstverständlich, dass wir darüber kein Wort, keinen weiteren Gedanken verschwenden. Er hat sich eben einfach nur "geirrt" und irrtümlich Angst gehabt. Und ihr habt es GEMEINSAM überwunden.

Warum das so wichtig ist

Wenn unser Hund in seinen Angst-Zuständen zusätzlich noch weitere und mehrmalige negative Erfahrungen macht, dann kann - nicht muss, aber kann - es ihm den Weg aus der Angst heraus nicht nur schwerer machen; sondern sogar unmöglich. Dann setzt sich die Angst fest. Dann kann sie zur krankhaften Phobie werden.

Und dann hast du irgendwann vielleicht einen sich heiser kläffenden und im Tobsuchtsanfall schäumenden Hund am Gartenzaun, der anfangs nur mal einen Schreck vor einem weißen Auto bekommen hat; mittlerweile aber weiße Autos so abgrundtief hasst, dass er vor Wut fast wahnsinnig wird. Und ihm das wieder abzugewöhnen, weil du dann doch Angst um sein Herz und deine Nerven bekommst, wird dich sehr, sehr, sehr viel mehr Zeit und Nerven kosten, als von Anfang an seine Sozialisierung sensibel und individuell zu begleiten.

Warum mit Lob und Leckerlie sparen?

Angst zu haben, ist völlig normal. Die Instinkte deines Hundes, die immer noch auf eine natürliche und nicht städtische oder dörfliche Umgebung ausgelegt sind, lassen deinen Hund vor vielen Dingen Angst haben. Angst, die dir, der du mit den Dingen vertraut bist, aus deiner eigenen Sicht unverständlich erscheinen mag. Angst jedoch, die nun einmal tatsächlich da ist; und gegen die dein Hund dir zuliebe wirklich anzukämpfen versucht.

Lob & Leckerlie in Angst-Situationen braucht ein ABSOLUT FEHLERFREIES & PERFEKTES Timing! Lobst du zu früh oder zu spät, und sei es auch nur eine einzige Sekunde, richtet dein falsches Lob mehr Schaden an, als ein richtiges Lob Nutzen bringen würde.

Wenn du ihn nun aber lobst, dann hilfst du ihm sicherlich auch ein kleines Stück weit aus dieser Angst heraus. Doch sehr viel eher sorgst du dafür, dass dein Hund, gerade, wenn du einen besonders ängstlichen oder scheuen Hund hast, seine Angst als etwas Wichtiges, etwas Bedeutsames empfindet. Und mehr noch: Lobst oder belohnst du auch nur eine Sekunde zu früh oder zu spät, gibst du also falsches Lob, führst du deinen Hund sehr schnell und leichtfüßig in eine falsche Richtung. Und dann richtet ein Lob mehr Schaden an, als kein Lob.

"Kein Lob" ist besser als falsches Lob! Tatsächlich ist "kein Lob" bei der Angst-Bekämpfung sogar besser: Es zeigt dem Hund, dass Angst hier ein Irrtum ist. Sie ist nicht notwendig, denn alles ist normal Und Normalität ist nicht lobenswert.

Tatsächlich ist "keine Korrektur" für deinen Hund bereits ein Lob; also der Hinweis "Alles im grünen Bereich! Du machst dich super!" Und genau das wollen wir ja haben. Du hilfst deinem Hund viel eher, indem du ihn von dem beängstigenden Teil durch Spiel und Aufmerksamkeit ablenkst und er dann plötzlich feststellt: "Huch?! Ich stehe direkt daneben und es hat mich immer noch nicht gefressen? Vielleicht ist es ja gar nicht so gefährlich?!" Und wenn du jetzt durch "Nicht-Loben" (Wozu auch? Es passiert doch nichts besonderes, oder?!) und völlig entspanntes Verhalten deinem Hund zeigst "Schau her, wie ich mich verhalte! Hier? Angst? Warum? Ich führe dich! Vertraue mir!", dann machst du deinen Job als Rudelführer wirklich passabel.

Also: Wie desensibilisiere ich richtig?

Die Desensibilisierung, also das Unempfindlich-Machen durch Abstumpfung in der Wiederholung, ist ein hochgradig individueller Prozess, in dem es ausschließlich darum geht, ganz gezielt auf die Ängste deines - und NUR DEINES - Hundes einzugehen. Und das bedeutet:

  • Wappne dich mit viel Geduld und Nerven aus Stahl. Die Bekämpfung von Ängsten ist oft ein sehr langwieriger, langweiliger und mit vielen Rückschlägen behafteter Prozess. Wenn du da auch noch die Geduld verlierst, bremst du nur noch mehr.
  • Nimm ein Hörbuch oder ein Handy-Game mit. Die Zeit des Wartens kann lang werden. Und auch du musst dich selbst bei Laune halten.
  • Merke dir jedes noch so kleine Anzeichen von Angst deines Hundes! Ganz besonders die typischen Ängste, wie Oberflächen, Strukturen, Objekten, fremden Menschen, fremden Hunden, ungewohnten Geräuschen, etc.
  • Denke daran, dass nicht alle Ängste abstrakt sind! Ein Hund, der vor DIESER Statue keine Angst mehr hat, kann immer noch vor JENER Statue vor Angst im Boden versinken wollen.
  • Behalte auch im Kopf, dass eine einmal abgebaute Angst nicht unbedingt für immer und ewig "verschwunden" sein muss. Es kann Auslöser (sogenannte Trigger) geben, die diese Angst wieder präsent machen, auch, wenn ihr sie schon vor Jahren erfolgreich bekämpft hattet. Behandle solche wiederkehrenden Ängste genauso, wie neue Ängste.
  • Nimm dir für jede dieser Ängste ausreichend Zeit. Was "ausreichend" ist, wird dir dein Hund zeigen. Wenn er sich unbekümmert nähert, ist es ausreichend gewesen.
  • Lass, wenn immer möglich, deinen Hund das Tempo der Annäherung bestimmen. Locke ihn nicht! Zwinge ihn nicht! Nutze aber durchaus psychologische Tricks, um die Annäherung zu beschleunigen. Doch achte stets auf die Signale deines Hundes: Zwinge ihn nicht näher, als er sich gerade traut!
    • Halte das Aufregungs-Level deines Hundes so niedrig, wie du nur kannst. Halte jede Aufregung - und vor allem jede negative Aufregung - von ihm fern. Mache die Situation so langweilig und trist, wie es dir nur irgend möglich ist. Sprich nicht mit ihm. Schaue ihn nicht mal an. Tue so, als wärst du ohne ihn hier.
    • Ablenkung durch Spielen und dabei scheinbar zufällige Annäherung.
    • Setze dich in der Entfernung, die dein Hund gerade noch als okay empfindet, auf den Boden. Gib ihm ein Leckerlie. Dann wirf die nachfolgenden Leckerlies immer ungefähr einen halben Meter dichter an das beängstigende Objekt. Zwinge deinen Hund nicht, sie einzusammeln. Animiere ihn auch nicht dazu. Lass es ihn allein entscheiden. Erreicht er "seine heutige Grenze", verzichtet er also auf die Leckerlies dahinter; wirf weitere Leckerlies genau an und auf diese Grenze. Irgendwann überwindet er sie ganz allein.
    • Bewusstes Abrufen, wenn man etwas dichter am gefährlichen Gegenstand steht. Bleibe dabei aber in ausreichender Entfernung, so dass dein Hund nicht in einen Konflikt zwischen Gehorsamkeits-Wunsch und Angst kommt!
    • Ein müder Hund hat weniger Angst. Mache vor dem Besuch des beängstigenden Gegenstands einen ausführlichen und sehr ermüdenden Spaziergang!
    • Ein sehr satter Hund hat weniger Angst. Wenn du wirklich mal nicht weiterkommst: Füttere deinen Hund rund! Dann gehe das Objekt besuchen.
    • Ein rennender Hund ist abgelenkt. Jogge mit deinem Hund immer mal wieder; und immer dichter am Angst-Objekt vorbei. Wiederhole das 20, 30, 40 Mal. Und versuche dann eine langsame und entspannte Annäherung.
    • Ein Hund, der dich respektiert, wird seine Angst noch eifriger bekämpfen, weil er dafür sein Vertrauen in dich nutzen kann. Sorge dafür, dass du seinen Respekt bekommst!
  • Auch Hunde sind nur Menschen! Auch für sie ist nicht jeder Tag ein guter Tag zur Angst-Bekämpfung. Wenn du also feststellst, dass er heute mal nicht so gut vorankommt, akzeptiere es. Versuche es halt morgen wieder.
  • Einmal ist kein Mal! Habt ihr es einmal bis auf "Schnüffel-Kontakt" an das feindliche Objekt geschafft, war das nur der Anfang. Von jetzt an baue es JEDEN TAG in dein Programm ein. So lange, bis der Hund völlig selbstverständlich und tiefenentspannt direkt daneben liegen und dösen kann. Das bekommst du heraus, indem du direkt am Objekt so lange stehen bleibst, bis dein Hund sich ohne jegliches Kommando neben dir ablegt und eine entspannte Liegeposition einnimmt. Im Normalfall sollte das innerhalb von 2, 3 Minuten geschehen.
  • Kommt dein Hund während der Angst-Therapie in irgendwelche Probleme (stecken bleiben, Leine hängengeblieben, etc.) hilf ihm da in absoluter Ruhe und mit super-entspannten Bewegungen heraus, als wäre es die langweiligste Sache der Welt. Auch dann, wenn es dich gerade selbst aufregt.
  • Wenn du auch nur den Hauch eines Gefühls hast, dass dein Lob nicht absolut perfekt getimed kommen wird --- VERZICHTE AUFS LOBEN! Ein falsches Lob (zur falschen Zeit, und sei es auch nur eine einzige Sekunde zu früh oder zu spät; oder in der falschen Intensität) richtet viel, viel mehr Schaden an, als ein perfekt abgestimmtes richtiges Lob nutzen kann.
  • Nutze durchaus Angebote von Hundeschulen, Hundetrainern und Hundegruppen. Doch benutze deinen gesunden Menschenverstand! Sie können dir alle nur einen Teil der Lösung bieten. Der Löwenteil der Arbeit bleibt trotzdem an dir und deinem Hund hängen.

Klingt nach "viel Holz"? Dann bekommst du es einfacher: Tue einfach nur das, was du von deinem Therapeuten erwarten würdest, wenn er dir bei deiner Angst-Bekämpfung helfen sollte. Benutze deinen gesunden Menschenverstand!

Schweigen ist Gold! Reden ist ... Scheiße!

Für all jene, die glauben, ihr Hund verstünde jedes Wort, sei noch einmal daran erinnert: Bei der Desensibilisierung SCHWEIGEN wir. Wir sprechen nur das Aller-Aller-Nötigste. Doch am allerwenigsten trösten wir den Hund! JEDES WORT, das du sagst - und er versteht keines davon, sondern nimmt nur die Stimmung und Tonlage auf - BESTÄRKT deinen Hund nur in seiner Angst.

Statt "Toll machst du das! Bald hast du deine Angst überwunden!" hört er "Oh Scheiße! Mir schlottern auch die Knie! Lass uns hier verschwinden! Schnell!" Deshalb ist es das Beste, was wir für unseren Hund in solchen Situationen tun können, wenn wir schweigen. Kein Wort. Kein Laut. Totale Stille von unserer Seite.