Was Rudelführung bedeutet

Wir haben es schon vielfach angesprochen: Nur sehr wenige Hunde sind "geborene Anführer".

Damit es noch verständlicher wird, schauen wir uns in diesem Abschnitt an, wie es sich aus der Sicht des Hundes anfühlt, einen Job übernehmen zu müssen, dem er gar nicht gewachsen ist. Doch wenn er dazu gezwungen wird, ... nun mindestens EINER MUSS den Job machen.

Ja, das ist mal wieder viel Holz in diesem Abschnitt. Aber um es wirklich verständlich zu machen, soll es so deutlich wie möglich beschrieben werden.

Schauen wir uns daher zuerst einmal an, wie unser Hund sich fühlt; indem wir seine Perspektive einnehmen.

Und dann schauen wir uns weiter unten an, was wir tun können, um es uns - und unserem Hund - sehr viel leichter zu machen.

Du willst wissen, wie sich dein Hund in dieser Situation fühlt?

Stelle dir vor, du sitzt als einziger Passagier in einem Flugzeug. Nur du und der Pilot. Und plötzlich wird der Pilot ohnmächtig. Er kippt einfach zur Seite und rührt sich nicht mehr. Niemand steuert mehr das Flugzeug.

Wer wird jetzt das Flugzeug fliegen? Natürlich du, denn es ist niemand anderes da. Und einer MUSS den Job ja machen...

Wie fühlst du dich jetzt? Verängstigt? Nervös? Überwältigt? Hilflos? Völlig überfordert? Allein gelassen?

... jedenfalls ziemlich beschissen, nicht wahr?!

Du hast keine Ahnung, was du machen sollst. Da sind unzählige Knöpfe, Hebel und Anzeigen, von denen du keine einzige verstehst. Und überall piepst, brummt, knarrt und klingelt es; doch du verstehst nicht, was dir all das sagen soll.

Dem Piloten würde es zweifellos helfen. Aber dich verwirrt und verängstigt es nur zusätzlich: Jedes dieser Signale könnte schließlich bedeuten, dass das Flugzeug gerade dabei ist, abzustürzen; und dass du irgendwas - wenn du nur wüsstest: Was? - dagegen unternehmen musst, um es zu verhindern.

Und du weißt sehr genau: Machst du Fehler, werdet ihr abstürzen und sterben...

Trotz alledem bist du aber - mit schweißnassen Händen, zitternden Knien, einem fetten Frosch im Hals und dicken Schweißperlen auf der Stirn - bereit, dein Bestes zu geben, um euch da irgendwie durchzubringen.

Denn für dich (und den Piloten) geht es um Leben und Tod.

Genauso, wie du in dieser Situation,
fühlt sich dein Hund,
wenn er die Führung IN DEINER WELT
übernehmen muss.

Auch das kleinste Rudel braucht einen, der sich auskennt. Einen, der die Antworten hat. Einen, der weiß, was zu tun ist. Nicht, damit er "den Boss" raushängen lassen kann. Sondern, damit die anderen sicher sind.

Flugzeug
So, wie du das Cockpit eines Flugzeugs, sieht dein Hund deine Welt: Verwirrend, völlig fremd, unzählige Schalter, die alle irgendwas bewirken ... und jeder Fehler kann der letzte sein.

Es geht um Leben und Tod? ... Warum so dramatisch?

Die Instinkte deines Hundes sind bis heute auf " Überleben!" eingestellt

Auch nach mittlerweile etlichen Tausend Jahren gemeinsamen Lebens mit dem Menschen ist dein Hund immer noch ein Abkömmling der Wölfe. So eng verwandt mit dem Wolf, dass sie sogar immer noch gemeinsame Kinder - " Wolfshybriden" genannt - bekommen können.

Grundregel der Wildnis: Finde heraus, wie du deine Beute fangen kannst! Und achte stets darauf, dass du nicht selbst zur Beute wirst!

Und so klein dein Hund vielleicht auch sein mag: In ihm steckt immer noch der Wolf. Die meisten seiner Instinkte sind immer noch "Wolf". Sein Sozialverhalten ist "Wolf". Sogar seine Beute betrachtet er bis heute aus den Augen eines Wolfes: Mäuse, Hasen, schwaches Wild: Wenn es wegläuft, ist es Beute! Trotz "Dosenfutter von Geburt an". Trotz Kurzatmigkeit wegen Überfütterung und falscher Ernährung.

Doch das Leben in der Wildnis ist lebensgefährlich. Jede Unachtsamkeit, jeder Fehler kann der letzte gewesen sein.

Alles, was sich bewegt oder Geräusche macht, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit entweder eine Gefahr oder etwas Essbares und sichert so das Überleben. Dazwischen gibt es nicht viel, was man falsch beurteilen kann.

Daher sind unsere Hunde - genauso wie Wölfe - stets im Dauer-Alarmzustand. Jede Bewegung, jedes Geräusch wird darauf geprüft, ob es verletzen oder töten kann; ob es eine Gefahr darstellt, oder ob man es vielleicht jagen und fressen kann.

Selbst im kleinsten Hund stecken immer noch die Instinkte des Wolfs: Das Leben in der Wildnis ist gefährlich! Nur wer immer und überall aufpasst, hat eine Chance zu überleben.

"Abschalten & Entspannen" kann man nur in einem sicheren Rudel mit starken und aufmerksamen Anführern, die jederzeit auf die Sicherheit achten.

Stressig? Ja. Aber sie verstehen die Spielregeln instinktiv.

Das hört sich alles verdammt stressig an. Und das ist es auch. Für jeden, der sich damit nicht auskennt.

Aber die Wölfe - und auch unsere Hunde - verstehen diese Wildnis-Spielregeln ganz instinktiv. Für sie ist es "normal", ganz gewöhnlicher Stress, weil er unvermeidbar ist.

Genauso, wie Menschen in ihrer "natürlichen Umgebung" zu überleben verstehen; verstehen auch Wölfe (und Hunde) in ihrer natürlichen Umgebung zu überleben.

Genauso, wie du, als Mensch, die Spielregeln der Stadt verstehst. Ampeln, Autos, Straßenbahnen, viele fremde Menschen (darunter sicherlich auch ab und zu sehr gefährliche Menschen), Supermärkte, Ärzte, Polizisten, Feuerwehrleute, ... und du mittendrin. Du verstehst all das. Für dich ergibt das - trotz des Stresses - einen logischen Sinn. Und für dich ist all das ebenfalls unvermeidbar. Deshalb nimmst du es hin.

Du weißt, wie du im "Großstadt-Dschungel" überleben kannst. Du kennst die Regeln. Sie sind dir vertraut. Und sicherlich bedeuten sie auch für dich durchaus Stress. Aber es ist ganz gewöhnlicher Stress, weil er unvermeidbar ist.

Und was machen wir mit den Hunden?

Hunde verstehen also ihr natürliches Umfeld. So gefährlich es aus unserer Sicht auch erscheinen mag: Für sie ist all das instinktiv vertraut, verständlich und berechenbar.

Doch was machen WIR mit ihnen? Wir reißen sie aus ihrem natürlichen Umfeld und zwingen sie in unser Umfeld. Völlig fremd. Völlig andersartig. Völlig unverständlich.

Die "Wildnis-Instinkte" unseres Hundes nutzen ihm in der Stadt genauso viel, wie deine "Großstadt-Instinkte" dir in der Wildnis helfen.

Und wir beginnen damit, ihren natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus durcheinanderzubringen: Die Nächte sind bei uns strahlend hell erleuchtet. Und wenn wir wollen, schließen wir Vorhänge und Jalousien; und schon wird der hellste Sonnentag in Sekunden zur stockfinsteren Nacht, in der man nicht die Hand vor Augen sieht.

Geräusche, Gerüche, das Verhalten der Menschen, das so gar nicht dem instinktiv gewohnten Verhalten von Tieren - ganz egal, ob Beute oder Jäger - entspricht: Praktisch gar nichts davon versteht der Hund. Alles ist unnatürlich, widerspricht seinen Instinkten, wirkt geradezu als würden von allen Seiten nur noch unbekannte und unvertraute Gefahren auf ihn einstürmen. ... genauso, wie es dir als frisch gekürter Pilot ergehen würde.

Schlimmer noch: Wir Menschen machen ganz freiwillig und sogar mit großer Freude völlig kranke und sogar  lebensgefährliche Sachen! Wir laden wildfremde Menschen zu uns ins eigene Revier, also in die Wohnung ein. Dorthin, wo wir nicht flüchten können, wenn sie uns angreifen und töten wollen.

Alles, was nicht zum Rudel gehört, ist aus der Sicht des Hundes IMMER erst einmal eine Bedrohung. (Vorausgesetzt, es ist nicht eindeutig essbar.) Es bedarf daher IMMER ZUERST der genaueren Betrachtung, ob es sich als Gefahr herausstellt.

Denn was für dich " die beste Schulfreundin, die du seit Jahren nicht gesehen hast", ist, das ist für deinen Hund " ein wildfremder Mensch, der ihn, dich und das ganze Rudel angreifen und töten oder schwer verletzen wollen könnte".

Und du lässt sie einfach so reinkommen; ohne sie vorher gründlich abzuchecken. Und ohne sicherzustellen, dass sie deinem Hund, dir und dem Rest deines Rudels nichts antun kann.

Jede Faser im Körper deines Hundes rebelliert dagegen. Seine natürlichen Instinkte gehen auf "Alarmstufe Rot": Das kann nie im Leben gut ausgehen! Wir werden vermutlich alle sterben, nur weil du so dumm bist.

Und dann geben wir ihnen den Rest

Als ob es nicht reichen würde, dass wir die instinktiv gewohnten Regeln unseres Hundes komplett über den Haufen werfen. Als ob es nicht reichen würde, dass wir unseren Hund einer Umwelt auszusetzen, von der er NICHTS - wirklich GAR NICHTS - versteht:

Nein, jetzt zwingen wir unseren Hund auch noch, unser kleines Rudel in unserer menschlichen Welt mit ihren menschlichen Regeln zu führen. Und wir beantworten ihnen dabei keine einzige ihrer vielen Fragen.

Und sei versichert: Sie haben Fragen! Genauso, wie du Fragen hättest, wenn du als frisch gekürter Pilot um das Leben von dir und dem bewusstlosen Piloten fliegen müsstest.

Kein Wunder also, dass es so viele Hunde mit schweren psychischen Störungen gibt. Kein Wunder also, dass so viele Hunde unter Trennungsängsten leiden; dass sie Angst-Aggressionen zeigen; dass sie wie verrückt am Zaun auf und ab rennen; dass sie durchdrehen, wenn sie einen anderen Hund, einen Jogger oder ein Fahrrad sehen; ...

Es ist ja niemand da, der ihre Fragen beantwortet! Und sie verstehen es nicht von allein. Dafür ist unsere Welt einfach zu andersartig, zu komplex, zu fremd für unseren Hund.

Kehren wir nun noch einmal ins Flugzeug zurück

Und jetzt befinden wir uns wieder im Flugzeug: Du sitzt immer noch mit schweißnassen Händen und zitternden Knien auf dem Pilotensitz und gibst dein Allerbestes, um zu überleben. Bisher ist dir das offensichtlich gelungen; doch du weißt auch: Jeder Moment könnte der letzte sein. ... und plötzlich wacht der Pilot neben dir wieder auf.

Was machst du?

Na klar! Du prüfst kurz, ob es ihm einigermaßen gut geht; ... und dann springst du erleichtert in Windeseile aus dem Pilotensitz. Du lässt den erfahrenen Piloten wieder fliegen und weißt:

»Jetzt wird alles gut!
Wir sind gerettet!
Denn der kennt sich damit aus!
«

Die Erleichterung, die du dann fühlst, und den Wunsch, nie, nie, nie - wirklich NIE - wieder in diese Situation geraten zu müssen, kannst du dir sicherlich gut vorstellen, nicht wahr?!

GENAU DAS ist das Gefühl deines Hundes,
wenn du endlich beginnst,
ihn durch DEINE Welt zu führen.

Okay, ich sollte führen; weil ich mich besser auskenne. Aber wie mache ich das?!

Damit dürfte klar sein: »Führen sollte, wer sich am besten auskennt!« Das macht uns allen - also uns UND dem Hund - das Leben sehr viel leichter und entspannter.

Bleibt die Frage:

»Wie?
Wie mache ich das?
Also, wie führe ich meinen Hund durch meine Welt?
«

Diese Frage beantworten wir im nächsten Abschnitt...